Serie: Eine Neubautrasse Hamburg-Hannover hätte fatale Folgen. Betroffene erzählen, was das bedeuten würde. Heute: Die Wübbes aus Glüsingen
Glüsingen. Sollte die Bahn eine neue ICE- und Gütertrasse von Hamburg nach Hannover durch den Landkreis Harburg bauen, bleiben Menschen und Betriebe, Dörfer und wertvolle Naturräume auf der Strecke. Die Sorge der Betroffenen, die in diesem Korridor leben, ist groß. Werden sie ihre Häuser verlieren? Eines Tages an einem 20 Meter hohen Bahndamm wohnen? Werden sie ihre Felder nicht mehr erreichen können und ihre Dörfer inselartig eingeschlossen sein? Das Abendblatt hat Betroffene an der Strecke besucht und sie gefragt, was die Trasse für sie bedeutet.
Teil 3: Henning und Heinrich Wübbe aus Glüsingen
Bislang war es eine friedliche Co-Existenz. Der alte Traditionshof der Familie Wübbe in Glüsingen auf der einen Seite. Und die Bahntrasse von Hamburg nach Bremen auf der anderen Seite. Henning Wübbe, sein Vater Heinrich, Mutter Dorle und Schwester Christina sowie die 40 Milchkühe und zwei Hofkatzen haben sich mit der Bahn arrangiert. Das Hämmern der Güterzüge, das Rauschen des Metronoms und das Summen des ICE haben sie in ihr Leben eingebaut. Ärger gibt es nur dann, wenn in trockenen Sommern bremsende Züge für Funkenflug sorgen und plötzlich die verwahrlosten Büsche am Bahndamm brennen. Daran aber haben sich die Wübbes längst gewöhnt. Sie rücken dann gemeinsam mit der Freiwilligen Feuerwehr aus. Einen größeren Brand konnten sie stets verhindern.
Seit ein paar Monaten jedoch hat sich das Blatt gewendet. Und Henning Wübbe hat zum ersten Mal eine solche Wut gegen die Deutsche Bahn, dass er am liebsten eine ganze Trasse brennen lassen würde. Und zwar eine, die es noch gar nicht gibt, deren Bau allerdings für die Gemeinde Seevetal weitreichende Folgen haben würde. Wie berichtet, soll die Strecke zwischen Hamburg und Hannover ausgebaut werden. Dafür hat die Bahn verschiedene Trassenvarianten erarbeitet, unter anderem eine Neubautrasse durch den Landkreis Harburg. Diese verläuft auf einem zum Teil 20 Meter hohen und bis zu 80 Meter breiten Bahndamm mitten durch Henning Wübbes Heimatgemeinde. Und mehr noch: Im Streckenabschnitt Glüsingen geht sie direkt über seinen Hof. Die Pläne liegen dem Bundesverkehrsministerium vor, das in den kommenden Wochen darüber entscheiden wird.
Gefährdet: Ein Hof mit Jahrhundertealter Tradition im Landkreis Harburg
Für Henning Wübbe und seine Familie hängt viel von dieser Entscheidung ab. „Wenn die Neubautrasse kommt, verlieren wir einen Hof mit Jahrhundertealter Tradition“, sagt Henning Wübbe. „Wir verlieren unsere Wurzeln. Aber vor allem verlieren wir unsere Zukunft.“ In diese hat Henning Wübbe gemeinsam mit Vater Heinrich zuletzt 2020 rund 80.000 Euro investiert, um den Betrieb zukunftssicher zu machen. Von dem Geld hatten sie den alten Strohschuppen aus dem Jahr 1900 zur „Milchtankstelle“ umgebaut. An dieser können, barrierefrei zugänglich und wit-terungsgeschützt, Verbraucherinnen und Verbraucher von sieben bis 21 Uhr frische Milch und regionale Produkte einkaufen. Die Milch gelangt von den gemolkenen Kühen direkt über einen Automaten in die Flaschen. Neben hofeigenen Produkten wie Joghurt und Käse gibt es außerdem Produkte aus der Region wie Eier und Kartoffeln. Unterstützt wurde das Projekt von der Leader-Region Achtern-Elbe-Diek mit rund 20.100 Euro aus EU-Fördermitteln, weil es dazu beiträgt, die Vermarktung regionaler Produkte zu fördern und die Daseinsvorsorge vor Ort stärkt.
„Wir bewirtschaften hier 130 Hektar, davon 30 Hektar Grünland“, sagt Henning Wübbe. Die Aufzucht der Kälber erfolge im eigenen Betrieb. Der Hof habe zahlreiche Milchkunden, die Direktvermarktung sei ein weiteres Standbein, das gut angelaufen sei. „Wir haben eine große Stammkundschaft“, so der 40 Jahre alte Landwirt. „Die Leute kommen sogar aus Altona hierher, weil sie frische, regionale Produkte wollen.“
Eigentlich wollte Henning Wübbe den Betrieb weiter ausbauen
Eigentlich wollte Henning Wübbe den Betrieb weiter ausbauen. Die Pläne für eine Mehrzweckhalle liegen bereits in der Schublade. Doch vorerst hat er alle Investitionen auf Eis gelegt. „Wir wissen nicht, ob wir an diesem Standort eine Zukunft haben“, sagt er. „Und von der Bahn redet keiner offen mit uns.“ Dabei gäbe es so vieles zu klären, so vieles, was die Planer gar nicht wüssten, den Wübbes aber eine Menge bedeute. Zum Beispiel, dass der Hof eine 700-jährige Geschichte habe. 1295 erstmalig urkundlich erwähnt worden sei. Dass der Name Wübbe seit dem 16. Jahrhundert mit dem Betrieb verknüpft sei. Und dass das heutige Wohnhaus genau dort stehe, wo einst ein Zweiständer-Rauchhaus gestanden habe. „Scheune mit Kornlager sind über 125 Jahre alt“, sagt Henning Wübbe, dessen Betrieb aktuell zwei Auszubildende hat.
Dass Kuhstall und Maschinenhalle, Siloplatz und Milchtankstelle abgerissen werden könnten – für die Familie, die so eng mit der Region verbunden ist, ist dieser Gedanke unannehmbar. Senior Heinrich Wübbe ist Bezirksvorsitzender vom Landvolk Seevetal, Jagdvorsteher, Mitglied des Blasorchesters im Turnverein Meckelfeld. Sohn und Tochter musizieren ebenfalls dort, engagieren sich seit ihrer Jugend ehrenamtlich in der Freiwilligen Feuerwehr Glüsingen und sind im Schützenverein aktiv. Sie sind hier geboren, aufgewachsen und fest verwurzelt.
„Wir werden alles dafür tun, diese Trasse zu verhindern“
„Wir werden alles dafür tun, diese Trasse zu verhindern“, sagt Senior Heinrich Wübbe, der vorsorglich Erkundigungen beim Rechtsanwalt eingeholt hat, um schlimmstenfalls eine für beide Seiten tragbare Lösung zu finden. „Sollte die Neubaustrecke kommen, wollen wir wenigstens einen vernünftigen Ausgleich.“ Die Sorge ist groß, dass sie als landwirtschaftlicher Betrieb übers Ohr gehauen werden und am Ende ihre Existenz verlieren könnten. „Wir trauen der Bahn nicht“, sagt der Junior. „Sie hat uns von Planungsbeginn an die Wahrheit über die Trasse verschwiegen und heimlich geplant. Es wäre fair gewesen, die Menschen und Betriebe, die unmittelbar betroffen sein könnten, in die Planungen einzubinden.“
Jetzt, wo die Katze aus dem Sack sei, würde sich vieles im Nachhinein erschließen. Auch diese Situation im Februar 2022, als ein Mitarbeiter der Bahn auf seinem Grundstück Probebohrungen vornahm, ohne sich vorher anzumelden. Hennig Wübbe hatte damals gedacht, es ginge um den bestehenden Bahndamm, um Instandsetzungsarbeiten oder die Pflege des Randstreifens. Damit es im Sommer nicht wieder zu Bränden durch Funkenflug komme. „Heute bin ich schlauer“, sagt er. „Die haben damals für die Neubautrasse Daten eingeholt.“ Ein Unding sei das, die Menschen so im Unklaren zu lassen. Er ärgert sich noch heute darüber. Hätte er geahnt, dass es um eine neue Trasse über seine Flächen geht, er hätte den Bahnmitarbeiter eigenhändig vom Hof gejagt.
Hanna Kastendiek, HA